- Ohne konkreten Anhalt für eine Gefährdung ist ein Altenheim nicht verpflichtet, beim Vormundschaftsgericht die Fixierung eines geistig verwirrten und gehbehinderten Heimbewohners in seinem Rollstuhl zu beantragen. Maßgeblich sind insoweit die Erkenntnisse, die vor dem Schadensereignis gewonnen werden konnten.
- Hat der Betreuer des Altenheimbewohners in Kenntnis aller maßgeblichen Umstände einen Antrag auf Fixierung des Betreuten aus vertretbaren Erwägungen abgelehnt, ist die Leitung des Altenheims im Regelfall gehalten, diese Entscheidung zu respektieren.
- Was sich dem medizinischen Dienst der im Schadensfall eintrittspflichtigen Krankenkasse an Sicherungsmaßnahmen nicht aufdrängt, muß sich bei unverändertem Befund auch der Leitung eines Altenheims nicht aufdrängen.
- Daß der zuständige Vormundschaftsrichter die Fixierung von Heimbewohnern auf entsprechenden Antrag „immer“ anordnet, ist nicht entscheidungserheblich. Maßgeblich ist allein, wie er nach Auffassung des Regreßgerichts im konkreten Fall über einen derartigen Antrag hätte entscheiden müssen.
Die klagende Krankenversicherung begehrt …. Ersatz von Behandlungskosten der am 5. 12. 1910 geborenen Frau T. aufgrund eines Unfalls, den die Versicherte ….. im Altenheim der Bekl. erlitt.
Am Unfalltag war Frau T. – in ihrem Rollstuhl sitzend – an einen Tisch im Speise- und Aufenthaltsraum des Altenheims geschoben worden. Gegen 17 Uhr erhob sie sich aus dem Rollstuhl, blieb mit dem Fuß am Tischbein hängen, stürzte zu Boden und zog sich Verletzungen zu…..
Die Kl. meint, ursächlich für den – in seinen Einzelheiten streitigen – Unfall seien Pflichtverletzungen des Pflegeheimpersonals, insbesondere das Versäumnis, die Verletzte nach Einholung einer entsprechenden vormundschaftsgerichtlichen Genehmigung in ihrem Rollstuhl zu fixieren.
Die Bekl. hat erwidert, das Problem sei mit der Betreuerin der Frau T. besprochen worden. Die Betreuerin habe sich gegen eine Fixierung und einen entsprechenden Antrag beim VormG ausgesprochen. …
Aus den Entscheidungsgründen:
… Das LG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Es fehlt an einer Verletzung der Pflichten, die der Heimleitung und dem Pflegepersonal aufgrund des Heimvertrages oblagen.
….
Der Träger eines Altenheims ist nicht nur zur Betreuung und Versorgung der Heimbewohner verpflichtet. Ihm obliegt deliktsrechtlich auch eine Verkehrssicherungspflicht zum Schutz der alten Menschen vor einer Schädigung, die diesen wegen Krankheit oder einer sonstigen körperlichen oder geistigen Einschränkung durch sie selbst und durch die Einrichtung und bauliche Gestaltung des Altenheims droht. Diese Pflicht ist allerdings beschränkt auf das Erforderliche und das für die Heimbewohner und das Pflegepersonal Zumutbare. Das Sicherheitsgebot ist abzuwägen gegen Gesichtspunkte der Einschränkung des Freiheitsrechts (Art. 2 I GG) und der Menschenwürde (Art. 1 I GG). Unter dem Sicherheitsaspekt ist ein alter und gebrechlicher Mensch, der nicht mehr in der Lage ist, einen eigenen Belangen sachgemäß Rechnung tragenden Willen zu bilden und danach zu handeln, besonders schutzwürdig, aber auch schutzbedürftig. Insoweit gewinnt Art. 2 II S. 1 GG Bedeutung, wonach jeder das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit hat.
Welchen konkreten Inhalt die Verpflichtung hat, einerseits die Menschenwürde und das Freiheitsrecht eines alten und kranken Menschen zu achten und andererseits sein Leben und seine körperliche Unversehrtheit zu schützen, kann nicht generell, sondern nur aufgrund einer sorgfältigen Abwägung sämtlicher Umstände des jeweiligen Einzelfalls entschieden werden. Der Senat weiß aus eigener Anschauung, daß dies die Leitung und das Pflegepersonal eines Altenheims, aber auch Betreuer und Familienangehörige vor schwierige Entscheidungen stellen kann, bei denen häufig ein erheblicher Beurteilungsspielraum verbleibt. Wird in einer derartigen Situation eine Entscheidung im Rahmen des Vertretbaren getroffen, kann sie nicht im nachhinein mit dem Stempel der Pflichtwidrigkeit versehen werden, wenn es zu einem Unfall kommt, den jeder Heimträger und sein Pflegepersonal, erst recht jedoch Betreuer und Familienangehörige vermeiden möchten, weil jeder Unfall – wie im vorliegenden Fall – die bestehenden Probleme weiter verschärft.
Von diesen Grundsätzen ausgehend ergibt sich hier folgendes:
Der Zustand der Frau T. war seit der Aufnahme im Oktober 1997 unverändert, so daß sich im Februar 1998 nicht die Frage stellte, ob sie aus aktuellem Anlaß zu ihrer eigenen Sicherheit im Rollstuhl fixiert werden mußte, was vorübergehend auch ohne vormundschaftsgerichtliche Genehmigung statthaft gewesen wäre, soweit die Voraussetzungen des § 34 StGB (rechtfertigender Notstand) vorlagen.
Die Berufung meint jedoch, die Heimleitung sei schon im Oktober 1997 verpflichtet gewesen, beim zuständigen VormG einen Antrag auf Fixierung der Patientin zu stellen, der von den beiden Vormundschaftsrichtern des AmtsG auch genehmigt worden wäre. Eine derartige Maßnahme hätte den Unfall vermieden.
Letzteres ist richtig, greift jedoch zu kurz:
Die alte Dame stand unter Betreuung. Einen Antrag, sie im Rollstuhl zu fixieren, hatte die Betreuerin abgelehnt. Nach Auffassung des Senats hat die Leitung eines Altenheims diese Entscheidung eines Betreuers zu respektieren, wenn sie nach den Erkenntnismöglichkeiten der Heimleitung und des Pflegepersonals vertretbar ist. Hier war die Entschließung der Betreuerin nicht nur vertretbar, sondern sogar naheliegend. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme erster Instanz steht fest, daß Frau T. die Angewohnheit hatte, sich aus ihrem Rollstuhl zu erheben, an dem davorstehenden Tisch festzuhalten, einige Zeit stehend zu verharren, um sich dann aus eigenem Antrieb oder vom Pflegepersonal aufgefordert und unterstützt wieder hinzusetzen. Diese seit Beginn des Heimaufenthaltes im Oktober 1997 zu beobachtende Angewohnheit der Patientin mußte bei der Betreuerin und beim Pflegepersonal der Bekl. nicht die Besorgnis wecken, daß Frau T. eines Tages – ganz gegen ihre bisherige Gewohnheit – versuchen würde, sich aus eigener Kraft gehend vom Tisch zu entfernen. Die eingehende und sorgfältige Beweisaufnahme des LG vermittelt überzeugend, daß es für die geistig verwirrte Patientin ein starkes Bedürfnis war, wiederholt aus dem Rollstuhl aufzustehen und sodann eine Weile stehend zu verharren. Es liegt nahe, eine derartige Aktivität als ein Reststück „Lebensqualität“ des altersverwirrten Menschen anzusehen. Sein Freiheitsrecht ist insoweit zu respektieren (Art. 2 I GG). Vor diesem Hintergrund hält der Senat die Entscheidung der Betreuerin, von einem Antrag auf vormundschaftsgerichtliche Genehmigung der Fixierung im Rollstuhl abzusehen, für naheliegend und nachvollziehbar.
Anders als von der Kl. gefordert war die Bekl. nicht gehalten oder gar rechtlich verpflichtet, ihrerseits beim VormG einen Antrag auf Fixierung der Patientin zu stellen.
Das ergibt sich bereits aus dem von der Kl. selbst eingeholten sozialmedizinischen Gutachten v. 4. 2. 1998, das auf einer Untersuchung v. 8. 1. 1998 gründet. Der Senat geht davon aus, daß die Feststellungen und Schlußfolgerungen des von der Kl. beauftragten Arztes auf einer eingehenden und sorgfältigen Befunderhebung gründen. Da eine Verständigung mit der Patientin nicht möglich war, mußte der Beratungsarzt sich bei seinem Gutachten auf die Erkenntnisse des Pflegepersonals der Bekl. stützen. Zum Verhalten der Patientin muß er seinerzeit dasselbe erfahren haben wie das LG bei seiner Beweiserhebung: Frau T. hatte die Angewohnheit, sich – am Tisch festhaltend – aus dem Rollstuhl zu erheben und sodann stehend zu verharren. Wäre das Verhalten der Patientin vor dem Unfall vom 26. 2. 1998 ein anderes gewesen, hätte sich schon dem untersuchenden Arzt der Kl. aufdrängen müssen, daß weitergreifende Sicherungsmaßnahmen, insbesondere eine Fixierung im Rollstuhl, geboten waren. Dieses Erfordernis hat der Arzt ausweislich seines Gutachtens v. 4. 2. 1998 jedoch nicht gesehen. Denn die Spalte [„zusätzliche Empfehlungen“] in seinem Untersuchungsformular ist unausgefüllt geblieben. Was sich dem von der Kl. mit einer eingehenden Untersuchung der Patientin beauftragten Arzt nicht aufdrängte (Antrag auf Fixierung im Rollstuhl), mußte sich auch dem Pflegepersonal der Bekl. nicht aufdrängen. Von daher kann auch aus dem Aufnahmebogen der Bekl., den die Kl. in der mündlichen Verhandlung des Berufungsverfahrens überreicht hat, entscheidend nichts gewonnen werden. Denn die zeitnäher zum Unfall getroffenen eingehenden Feststellungen und Empfehlungen des Beratungsarztes der Kl. sind beweiskräftiger als die knappen und oberflächlichen Eintragungen im Aufnahmebogen.
Daß zwischen der Untersuchung durch den Beratungsarzt der Kl. am 8. 1. 1998 und dem Unfalltag eine signifikante Änderung im Verhalten der Patientin eingetreten war, wird von der Berufung nicht behauptet und ist auch sonst nicht ersichtlich. Allerdings wurden alle Beteiligten sodann durch den Unfall v. 26. 2. 1998 eines Besseren belehrt. Daraus kann jedoch ein pflichtwidriges Versäumnis der Bekl. nicht abgeleitet werden. Maßgeblich ist allein, ob das Verhalten der Patientin vor dem Unfall Anlaß gab, sich mit einem Antrag auf Fixierung im Rollstuhl an das VormG zu wenden
(vgl. zum vergleichbaren Problem der Sicherungsvorkehrungen in einer psychiatrischen Klinik BGH, VersR 2000, 1240, 1241 = NJW 2000, 3425, 3426 = MDR 2000, 1376, 1377 = EzFamR, BGB § 823 Nr. 23 = RuS 2000, 499, 500 = KH 2001, 46 = RuP 2001, 42, 43 = LM, BGB § 823 (Dc), Nr. 211 (5/2001) = MedR 2001, 201, 202 = ArztR 2001, 208, 210, m. w. N.).
Da dies aus den dargestellten Gründen nicht der Fall war, kommt es auf die Beweisbehauptung der Kl., beim AmtsG würden Anträge auf Fixierung schwerstpflegebedürftiger Heiminsassen immer genehmigt, nicht an. Wäre ein derartiger Antrag aufgrund der bis zum Unfalltag bestehenden Erkenntnisse gestellt worden, hätte er nach Auffassung des Senats abgelehnt worden müssen. Die demgegenüber von der Berufung behauptete und durch Zeugnis der Vormundschaftsrichter des AmtsG unter Beweis gestellte fiktive Ermächtigung ist rechtlich unerheblich. Maßgeblich ist allein, wie das VormG richtig hätte entscheiden müssen. Ohne rechtfertigenden Anlaß darf ein Altenheimbewohner nicht in seinem Rollstuhl fixiert werden.
Der Senat ist darüber hinaus der Ansicht, daß die Leitung eines Altenheims im Regelfall davon absehen sollte, sich am erklärten Willen des Betreuers vorbei mit einem Antrag auf Fixierung an das VormG zu wenden. Das mag in Fällen anders sein, in denen die Entscheidung des Betreuers auf sachfremden Erwägungen beruht oder sonst greifbar sachwidrig ist. Dafür bestand hier kein Anhalt.
Die Bemerkung der Kl. in der mündlichen Verhandlung des Berufungsverfahrens, Frau T. sei durch die beim Sturz erlittenen Verletzungen doch viel weitergreifend als zuvor beeinträchtigt worden, was belege, daß allein die Fixierung im Rollstuhl ihren wohlverstandenen Interessen entsprochen habe, geht am Problem vorbei. Nahezu jeder Unfall läßt sich durch weitergreifende Sicherungsmaßnahmen vermeiden. Ein allumfassender Schutz kann jedoch in derartigen Fällen im Spannungsfeld zwischen Freiheitsrecht einerseits und dem Recht auf körperliche Unversehrtheit andererseits nicht gewährt werden. Erweist sich die Entscheidung, von einer Fixierung abzusehen, im nachhinein als Wahr, ist der durch den Unfall hervorgerufene Schaden des Heimbewohners, aber auch die emotionale Belastung des Pflegepersonals, des verantwortlichen Betreuers und der Familienangehörigen nicht weniger gravierend als die finanzielle Belastung der Kl.
Im übrigen könnte auch darüber spekuliert werden, wie Frau T. auf die monatelange dauerhafte Fixierung in ihrem Rollstuhl reagiert hätte. Auch das konnte Folgen haben, die mit dem Konzept eines Altenheims nicht zu vereinbaren sind, das sich nicht auf die sichernde Verwahrung der ihm anvertrauten Senioren beschränkt, sondern das Verfassungsgebot des Art. 1 I S. 1 GG ernst nimmt und den alten Menschen einen würdevollen Lebensabend gestaltet.
Letztlich fällt dem Pflegepersonal der Bekl. auch keine Pflichtverletzung bei der Betreuung und Überwachung der Patientin unmittelbar vor dem Unfall zur Last. Die Berufung sieht das anders und meint, man hätte die Fußstützen des Rollstuhls nicht abnehmen dürfen. Durch die Fußstützen hätte man die Patientin am Aufstehen hindern können. Auch das überzeugt den Senat nicht. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht fest, daß der Drang der Patientin, sich aus dem Rollstuhl zu erheben, außerordentlich stark war. Wäre sie dabei auf die am Rollstuhl angebrachten Fußstützen getreten, hätte das die Gefahr eines Abkippens mit dem Fuß oder eines Vornüberkippens auf den Tisch begründet. Es ist daher nicht zu beanstanden, daß die Fußstützen des Rollstuhls entfernt wurden, nachdem man die Patientin ganz nahe an den Tisch im Aufenthaltsraum herangeschoben hatte. Im übrigen hat die Bekl. nachgewiesen, daß Frau T. sich unmittelbar vor dem Unfall im Blickfeld des in der Küche tätigen Personals befand. Weitergreifende Vorkehrungen gegen den sekundenschnell ablaufenden Unfall mußte die Bekl. nicht treffen. Denn das liefe auf das Erfordernis hinaus, ständig und lückenlos eine Pflegekraft neben behinderten Heimbewohnern zu plazieren. Damit sind die Anforderungen an die Sorgfaltspflichten eines Altenheims überspannt.