Trotz schwankender, aber anhaltend drohender Suizidalität darf ein Behandler aus therapeutischen Gründen auf geschlossene Unterbringung verzichten, zum einen um seelische Entwicklungen zu ermöglichen, zum anderen um eine gemeinsame therapeutische Basis zu fördern. Ziel der Behandlung muss nicht in erster Linie nicht sein, Suizidalität einzudämmen, sondern psychotische Symptomatik zu beeinflussen, aus der sie resultiert.
Ein sogenannter Suizidvertrag ist ein grundsätzlich geeignetes Mittel. Mit einem solchen „Vertrag“ wird erreicht, dass zum einen die Suizidalität als dem Therapeuten bekannt und von ihm ernstgenommen gezeigt wird und sich zum anderen dem Patienten eine Hilfsmöglichkeit verdeutlicht und eine Gewissensinstanz verstärkt. Er dokumentiert zugleich, dass ernsthaft und mit einem entsprechenden Hilfsangebot über dieses Thema mit dem Patienten gesprochen wurde.
Der Träger eines psychiatrischen Krankenhauses haftet aus dem Gesichtspunkt des Organisationsverschuldens dafür, dass Stationen ausreichend besetzt sind vor allem wegen Urlaubs, also wegen eines vom Träger zu beeinflussenden Grundes , wenn der Personalbestand einer Station ohnehin die unterste Grenze des Vertretbaren darstellt, auf 1/5 des Normalstandes verringert wird. Dies muss der Träger unbedingt durch geeignete Maßnahmen verhindern. In Frage kamen eine sorgfältige Abstimmung des Urlaubsplanes, Personalverschiebungen, der Einsatz von Personalreserven oder eine Sitzwache, deren Kosten in einem dringenden Fall wie dem vorliegenden gegenüber der Krankenkasse sogar zusätzlich abgerechnet werden können. Dieses Verschulden ist so grob, dass davon auszugehen ist, dass bei einem ordnungsgemäßen Personalbestand der Sprung des Klägers hätte verhindert werden können und führt zur Beweislastumkehr.
OLG Hamm, Urteil vom 16.09.1992, 3 U 283 / 91
Der Kläger nach einem Selbstmordversuch freiwillig zur Behandlung seiner psychischen Erkrankung. Es wurde eine paranoide Psychose diagnostiziert und er wurde in einer geschlossenen Station untergebracht. Da eine allmähliche Besserung eintrat, wurde er auf eigenen Wunsch in eine offene Therapiestation verlegt. In der Folge verstärkten sich die Angst- und Wahnzustände des Klägers wieder. Medikamentöse Behandlung und verstärkte therapeutische Gespräche führten zu einer Besserung. Am Morgen des 11. September 1989 wurde mit dem Kläger ein therapeutisches Gespräch geführt, bei dem es zum Abschluß eines sogenannten Suizidvertrages kam. Der Kläger blieb auf der offenen Station.
Am Abend dieses Tages, an dem die Station wegen Urlaubs oder Krankheit des übrigen Personals nur mit einer Schwester besetzt war, sprang der Kläger vom Balkon des Patienten-Aufenthaltsraumes. Er ist seitdem querschnittsgelähmt und pflegebedürftig.
Der Kläger hat mit der Klage die Feststellung der Ersatzpflicht der Beklagten für die Folgen des Sprunges angestrebt. Der Beklagte hafte wegen fehlerhafter Behandlung. Der Kläger hätte – zumindest bei akuter Gefährdung – in einer geschlossenen Station untergebracht werden müssen. Der „Suizidvertrag“ sei ungeeignet gewesen, dieser Gefährdung entgegenzuwirken, zumal am Abend kein Ansprechpartner vorhanden gewesen sei.
Der Beklagte hafte ferner auch wegen eines Organisationsverschuldens. Die Station sei stark unterbesetzt gewesen. Das hätte der Beklagte verhindern müssen. Bei ordnungsgemäßer Besetzung der Station wäre es zu dem Vorfall nicht gekommen.
Der Beklagte hat demgegenüber geltend gemacht, das Pflegepersonal habe alles in seiner Macht Stehende getan; ein derartiger Selbsttötungsversuch könne nun einmal nicht verhindert werden. Die Behandlung des Klägers sei fehlerfrei gewesen. Die Unterbringung auf einer offenen Station sei therapeutisch geboten gewesen. Im übrigen gebe es auch auf einer geschlossenen Station keine Sicherheit für Selbsttötungsgefährdete. Der „Suizidvertrag“ sei die erforderliche und ausreichende therapeutische Maßnahme gewesen, da man am 11. September 1989 habe davon ausgehen können, dass es dem Kläger wieder besser gehe. Es habe die Krankheit des Klägers gekennzeichnet, dass es sich um eine schwankende bzw. latente Suizidalität gehandelt habe. Es werde bestritten, dass die Station unterbesetzt gewesen sei; jedenfalls sei dies nicht ursächlich geworden.
Der Kläger hat einen Anspruch auf die beantragte Feststellung der Ersatzpflicht des Beklagten (§ 256 ZPO). Es lassen sich zwar keine für die Schäden des Klägers ursächlichen Behandlungs- oder Beaufsichtigungsfehler feststellen, der Beklagte hat jedoch für ein grobes Organisationsverschulden einzustehen.
Ein ärztlicher Behandlungsfehler, für den der Beklagte nach §§ 831, 39 BGB einzutreten hätte, läßt sich nicht bereits darin sehen, dass der Kläger seit dem 21. Juli 1989 trotz der bestehenden Suizidgefährdung in einer offenen Station untergebracht und behandelt wurde. Der Sachverständige hat dargelegt, dass die Entscheidung, dem eigenen dringenden Wunsch des Klägers nach einer Verlegung nachzukommen, aus therapeutischer Sicht durchaus vertretbar war. Aus der Art des Krankheitsbildes des Klägers läßt sich folgern, dass seine eigene Beziehung zur Klinik und die helfende Rolle, die er ihr im Rahmen seiner Krankheit und Suizidalität zugestand, sehr gering war und deshalb die Klinik nur in geringem Umfang die Möglichkeit hatte, eine gemeinsame Basis zu entwickeln und zu nützen. Um überhaupt ein gewisses Behandlungsbündnis aufrechterhalten zu können, war man daher „sicherlich genötigt“, dem Kläger in seinem Wunsch nach der Behandlung auf einer offenen Station nachzugeben. Ziel der Behandlung konnte es auch in erster Linie nicht sein, die Suizidalität einzudämmen, sondern die psychotische Symptomatik zu beeinflussen, aus der sie resultierte. Trotz des Wissens um die zwar schwankende, aber anhaltend drohende Suizidalität wäre es einem Behandler nicht möglich gewesen, dem Kläger über die lange Dauer der Behandlung Freiheitsgrade zu versperren, zum einen um seelische Entwicklungen zu ermöglichen, zum anderen um überhaupt eine gemeinsame therapeutische Basis zu fördern. Vor diesem Hintergrund lief die Frage, ob der Kläger in einer geschlossenen oder einer offenen Station behandelt werden sollte, darauf hinaus, ob man das kurzfristige oder das langfristige Risiko eines Suizides mindern wollte. Beide Entscheidungen waren vertretbar.
Der Sachverständige hat diese Feststellungen darauf hingewiesen, dass der Kläger nicht wegen Selbsttötungsgefährdung aufgenommen wurde, sondern wegen der Krankheit, die auch eine solche Gefährdung beinhalten kann. Längerfristig muß gegen dieses Grundleiden angegangen werden. Es bestand bei dem Kläger eine anhaltende Suizidalität, die gekoppelt war an seine chronisch verlaufende Krankheit. Ein derartiger Wechsel zwischen äußerlich noch geordneten und dann psychotisch bestimmten, auch suizidalen Handlungen konnte immer raptusartig auftreten mit kurzer, aber auch mit fehlender Anlaufzeit. Auch konnte aus den Erfahrungen mit dem Kläger der diensthabende Arzt zu Recht davon ausgehen, dass verstärkte suizidale Regungen sich sehr schnell wieder auf das übliche Maß minderten.
Der sogenannte Suizidvertrag, dessen sich der Psychologe zur Erreichung seines Zieles bediente, war ein grundsätzlich geeignetes Mittel. Mit einem solchen „Vertrag“ wird erreicht, dass zum einen die Suizidalität als dem Therapeuten bekannt und von ihm ernstgenommen gezeigt wird und sich zum anderen dem Patienten eine Hilfsmöglichkeit verdeutlicht und eine Gewissensinstanz verstärkt. Er dokumentiert zugleich, dass ernsthaft und mit einem entsprechenden Hilfsangebot über dieses Thema mit dem Patienten gesprochen wurde.
Dass der Balkon, von dem der Kläger am Abend gesprungen ist, frei zugänglich war, ist nicht zu beanstanden. Es handelte sich um den Balkon des für alle Patienten bestimmten Aufenthaltsraumes. Wegen eines Patienten wird aber nicht der Zugang für alle gesperrt.
Ein Behandlungsfehler läge allerdings in einer unterbliebenen aktiven Information des Pflegepersonals insbesondere beim Schichtwechsel am Mittag.
Wenn auch keine Überwachung angezeigt war, so erforderte doch der Inhalt des „Suizidvertrages“, dass besondere Gesprächsbereitschaft signalisiert wurde. Den etwaigen Angstschüben sollte dadurch die Gefährlichkeit genommen werden, dass der Kläger die Sicherheit haben sollte, bei ihrem Auftreten Hilfe bei einem Gesprächspartner finden zu können. Das Personal konnte aber nur dann besondere Gesprächsbereitschaft signalisieren, wenn es von den Vorgängen des Vortages und des Vormittags wußte. Diese aktive Information gehörte zu einer ordnungsgemäßen ärztlichen Behandlung. Zu einer Information der Zeugin, die am Abend allein Dienst auf der Station hatte, ist es ihrer Aussage nach nicht gekommen. Die Zeugin hat erklärt, ihr sei vor dem Sprung nicht bekannt gewesen, dass der Kläger akut für diesen Tag selbstmordgefährdet gewesen sei.
Ob hier wirklich ein Versäumnis vorliegt oder ob – wie in dem Bericht vermerkt – bei der Dienstübergabebesprechung am Mittag über den Kläger umfassend gesprochen wurde, kann dahingestellt bleiben. Ein solches Versäumnis wäre jedenfalls angesichts der Tatsache, dass es dem Kläger nach ärztlicher Einschätzung wieder besser ging und dem Personal zudem alle Informationen im Kurvenwagen frei zugänglich waren, nicht als so grob einzuschätzen, dass es zu einer Umkehr der Beweislast käme. Es bliebe vielmehr bei dem Grundsatz, dass der Kläger die Kausalität des Fehlers für den Schaden zu beweisen hat. Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass es auch bei ausreichender Information der Zeugin zu dem Selbstmordversuch gekommen wäre. Schon der Umstand, dass die Zeugin allein die gesamte Station betreute, führte dazu, dass sie sowohl räumlich als auch zeitlich kaum Kontakt zu dem Kläger hatte. Der Kläger mußte aufgrund der objektiven, von der Zeugin nicht zu beeinflussenden Gegebenheiten unabhängig von ihrem Informationsstand weitgehend sich allein überlassen bleiben.
Ein schuldhaftes Versäumnis des Pflegepersonals, der am Nachmittag und Abend Dienst versehenden Zeugin, ließ sich nicht feststellen. Es ist nicht ersichtlich, dass sie irgendwelche Anzeichen bemerkt hat oder hätte bemerken müssen, die Anlass zu eigenen Maßnahmen oder zum Herbeirufen eines Arztes bzw. Psychologen hätten geben müssen. Von dem angeblichen Vorfall in der Küche, bei dem der Kläger mit einem Messer herumhantiert haben soll, hat sie nach ihrem Bekunden erst nach dem Sprung erfahren.
Der Beklagte haftet jedoch aus dem Gesichtspunkt eigenen Organisationsverschuldens (§ 823 Absatz 1 BGB) dafür, dass die Station zur Zeit des Vorfalls unzureichend personell besetzt war. Dieses Verschulden ist so grob, dass davon auszugehen ist, dass bei einem ordnungsgemäßen Personalbestand der Sprung des Klägers hätte verhindert werden können.
Es befanden sich auf der Station zwischen 30 und 35 Patienten. Die Station ist 400 bis 500 qm groß. Zur Behandlung, Pflege und Überwachung der psychisch kranken Patienten ist die Station mit drei Pflegekräften (eine davon eine halbe Sozialarbeiterstelle), einem Arzt und einem Psychologen besetzt. Dies stellt die unterste Grenze des unbedingt erforderlichen Personalbestandes dar. Angesichts des Patientengutes und der therapeutischen Zielvorstellung hat der Sachverständige dies als „bedrückend spärliche Zahl an Personal“ bezeichnet, mit dem sich sicherlich nur die notwendigste Versorgung garantieren läßt. Der Senat schließt sich dem an.
Am Nachmittag und Abend des 11. September 1989 war wegen Urlaubs und eines Krankheitsfalles allein die Zeugin für die Versorgung und Beobachtung der gesamten Station und aller Patienten zuständig. Eine Erfüllung der von dem Beklagten mit Abschluß des Aufnahmevertrages übernommenen Verpflichtung, für die Sicherheit des Patienten zu sorgen, war unter diesen Umständen schlechterdings unmöglich. Schon die zu überwachende Fläche, aufgeteilt in verschiedene Räume in einer winkelförmig ausgestalteten Etage, überstieg die Beobachtungsfähigkeit einer einzelnen Person bei weitem. Es kam hinzu, dass die Zeugin nicht nur Beobachtungsfunktionen wahrzunehmen hatte, sondern als Schwester vor allem Betreuungs- und Pflegeaufgaben zu erfüllen hatte. Dies machte es erforderlich, sich immer wieder mit einzelnen Patienten intensiver zu beschäftigen. Dass sie in dieser Zeit für andere Patienten und für Ereignisse an anderen Orten kein Auge haben konnte, liegt auf der Hand. Das bedeutete aber, dass bei einer Vielzahl von psychisch kranken Patienten, bei denen mit unbedachten und überraschenden Verhaltensweisen immer wieder gerechnet werden muß, die mögliche Gefährdung eines einzelnen nicht mehr von dem – noch so intensiven – pflegerischen Einsatz abhing, sondern nur noch vom Zufall.
Da die Sicherheit des Patienten oberstes Gebot sein muß (BGH AHRS 3060/2), hätte der Beklagte durch geeignete organisatorische Maßnahmen dafür sorgen müssen, dass es zu einer solchen Personalsituation nicht kommen konnte. Auf die durch Sicherheitsmaßnahmen entstehenden Kosten kommt es jedenfalls dann nicht an, wenn wie hier diese nicht außer allen Verhältnisses zu der drohenden Gefahr stehen und diese Gefahr keine nur ganz entfernte ist (BGH a.a.O./OLG Düsseldorf AHRS 3060/12). Unabhängig von etwaigen aus den Budget-Verhandlungen mit den Krankenkassen herrührenden finanziellen Zwängen hat der Patient Anspruch auf die Wahrung essentieller Grundvoraussetzungen für seine Sicherheit. Im übrigen geht es hier gar nicht um die angeblich aus Kostengründen aufgezwungene dünne Personalausstattung, sondern darum, dass vor allem wegen Urlaubs, also wegen eines kostenunabhängigen, längerfristig feststehenden und von dem Beklagten zu beeinflussenden Grundes, der Personalbestand einer Station, der ohnehin die unterste Grenze des Vertretbaren darstellte, auf 1/5 des Normalstandes verringert worden ist. Dies mußte der Beklagte – worauf auch der Sachverständige hingewiesen hat – unbedingt durch geeignete Maßnahmen verhindern. In Frage kamen eine sorgfältige Abstimmung des Urlaubsplanes, Personalverschiebungen, der Einsatz von Personalreserven oder eine Sitzwache, deren Kosten in einem dringenden Fall wie dem vorliegenden gegenüber der Krankenkasse sogar zusätzlich abgerechnet werden können.
Angesichts des Umfanges der Unterschreitung des normalen Personalstandes und der dadurch hervorgerufenen Patientengefährdung kann das Verschulden des Beklagten nur als grob bezeichnet werden. Dies gilt um so mehr, als die therapeutische Wirkung eines „Suizidvertrages“ dadurch praktisch aufgehoben wurde. Ein solcher „Vertrag“ hat nur dann einen Sinn, wenn der Gesprächspartner, der dem Patienten seitens der Klinik „versprochen“ wird, dann auch vorhanden ist. Das ist – wie bereits oben dargelegt – aber nicht der Fall, wenn eine einzige Schwester sich um 35 psychisch kranke Patienten kümmern muß. Der suizidgefährdete Patient bleibt dann letztlich sich selbst überlassen. Auch der Sachverständige hat die Personalsituation als „objektiv schlechterdings unvertretbar“ bezeichnet.
Da hierdurch das Spektrum der für die Schädigung des Klägers in Frage kommenden Ursachen besonders verbreitert bzw. verschoben worden ist, führt dies als Ausgleich zu einer Umkehr der Beweislast (BGH NJW 83, 333; 88, 2949). Der Beklagte hat zu beweisen, dass es nicht durch die unzureichende Besetzung der Station mit nur einer Schwester zu den Schäden des Klägers gekommen ist. Der Beweis, dass es auch bei normaler Besetzung zu dem Sprung des Klägers gekommen wäre, ist ihm aber nicht gelungen.
Der Sachverständige hat vor dem Senat vielmehr erklärt, dass bei der normalen Schichtbesetzung von 3 bis 5 Personen durchaus eine gewisse Chance bestanden hätte, die bei dem Kläger am Abend auf der Station einsetzende verhängnisvolle psychische Entwicklung zu stoppen, jedenfalls aber den Sprung zu verhindern. Es wäre nicht völlig unwahrscheinlich gewesen, dass jemand rechtzeitig gesehen hätte, wie es um den Kläger stand. Er hat dies nachvollziehbar und überzeugend dahin erläutert, dass der Ausbruch eines Raptus nicht unbemerkbar im Inneren des Patienten stattfindet, sondern dies nach außen hin – zumindest für das fachkundige Pflegepersonal – deutlich wird.