BGH, Beschluss vom 24. Mai 2017, XII ZB 577/16
- a) Wird ein Betroffener, der sich allein mit seinem Rollstuhl fortbewegen kann, in einer Wohneinrichtung untergebracht, deren Außentür verschlossen wird, damit der Betroffene den geschützten Bereich nicht eigenmächtig verlassen kann, ist diese Unterbringung mit einer Freiheitsentziehung verbunden.
- b) Die Genehmigung einer geschlossenen Unterbringung nach § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB setzt keine akute, unmittelbar bevorstehende Gefahr für den Betreuten voraus. Notwendig ist eine ernstliche und konkrete Gefahr für Leibund Leben des Betreuten. Dies setzt objektivierbare und konkrete Anhaltspunkte für den Eintritt eines erheblichen Gesundheitsschadens voraus. Der Grad der Gefahr ist in Relation zum möglichen Schaden ohne Vornahme der freiheitsentziehenden Maßnahme zu bemessen (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 5. März 2014 – XII ZB 58/12 – FamRZ 2014, 831).
I.
Die im Jahr 1968 geborene Betroffene leidet an einem frühkindlichen Hirnschaden mit hochgradiger geistiger Behinderung bei vorhandenem CoffinLowry-Syndrom. Daneben besteht ein cerebrales Krampfleiden (Epilepsie). Sie ist auf einen Rollstuhl angewiesen, da sie nicht gehen kann. Komplexere Gespräche sind mit ihr nicht möglich, sie spricht nur einige Worte. Seit Juni 1999 lebt sie in einer Wohneinrichtung. Da sie nicht werkstattfähig ist, wird sie in der Fördergruppe der Einrichtung mit Bastelarbeiten beschäftigt. Seit ihrer Volljährigkeit war ihre Mutter als Pflegerin bzw. Betreuerin eingesetzt…… Der Aufgabenkreis der Betreuung umfasst auch … die Entscheidung über eine geschlossene Unterbringung.
Im August 2015 hat die Betreuerin die Verlängerung der geschlossenen Unterbringung der Betroffenen in der Wohneinrichtung beantragt. …
Nach den Ausführungen des Sachverständigen gibt es zu der geschlossenen Unterbringung keine Alternative. Die Betroffene sei nicht angemessen in der Lage, sich im Straßenverkehr mit dem Rollstuhl zu bewegen. Außerhalb der Unterbringung bestehe für sie die hochgradige Gefahr eines erheblichen gesundheitlichen Schadens. Eine freie Willensbestimmung im Hinblick auf die Erforderlichkeit der Unterbringung sei der Betroffenen nicht möglich. Ebenso wenig könne sie den Willen bilden, das Haus zu verlassen. Es könne jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass sie analog zu einem Kind mit dem Rollstuhl eine offene Einrichtung verlassen und sich im Straßenverkehr gefährden würde.
Aus Sicht der Gutachterin ist die Betroffene in der Lage, den natürlichen Willen zu einer Ortsveränderung zu bilden. Es müsse davon ausgegangen werden, dass sie aufgrund von Alltagserfahrungen zu der Entscheidung gelangen könne, einen Ortswechsel vorzunehmen. Wäre die Flurtür nach draußen nicht geschlossen, bestünde aus Sicht der sie seit vier Jahren begleitenden Heilerziehungspflegerin die Gefahr, dass die Betroffene durch diese nach draußen fahren würde.
Von der Fähigkeit zu einer zielgerichteten Handlungsplanung unter Abwägung von Folgen und Gefahren könne bei der Betroffenen nicht ausgegangen werden.
Sollte sie sich unter nicht geschützten Bedingungen dem Straßenverkehr aussetzen, wäre dies mit erheblichen Gefahren für sie verbunden.
Nach einem vergeblichen Versuch, ein persönliches Gespräch mit der Betroffenen zu führen, hat das Amtsgericht, gestützt auf die Gutachten, die geschlossene Unterbringung für zwei Jahre genehmigt. Die dagegen gerichtete Beschwerde der Betroffenen hat das Landgericht zurückgewiesen. Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde der Betroffenen.
II.
Die Rechtsbeschwerde bleibt ohne Erfolg.
- Das Landgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, die Voraussetzungen für die Genehmigung der Unterbringung gemäß § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB seien gegeben. Bei der Betroffenen liege ein frühkindlicher Hirnschaden mit hochgradiger geistiger Behinderung vor. Aufgrund dieser Behinderung sei sie nicht in der Lage, sich außerhalb der geschützten Einrichtung, in der sie lebe, sicher zu bewegen, sondern wäre dort vollkommen desorientiert und insbesondere den Gefahren des Straßenverkehrs ausgesetzt. ….. Die Genehmigung der Unterbringung sei auch erforderlich, da das Verschließen der Außentür der Wohneinrichtung zu einer Freiheitsentziehung im Sinne des § 1906 BGB führe. Auf der Grundlage des ergänzenden Gutachtens der Sachverständigen Dr. L. sei davon auszugehen, dass die Betroffene bei offener Tür den natürlichen Willen entwickeln könne, spontan mit ihrem Rollstuhl nach draußen zu fahren. Da sie sich mit anderen Mitbewohnern mit ihrem Rollstuhl in den geschützten Garten begeben könne und auch begebe, werde sie letztlich nur durch die verschlossene Außentür daran gehindert, in den allgemeinen Straßenverkehr zu gelangen. Die Unterbringung sei auch verhältnismäßig. Angesichts des seit der Kindheit der Betroffenen andauernden Zustands, der sich nicht verbessern könne, sei es angemessen, mit einer Unterbringungsdauer von zwei Jahren die Höchstfrist auszuschöpfen.
- Diese Ausführungen halten rechtlicher Nachprüfung stand.a) Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde bewirkt das Verschließen der Außentür eine Freiheitsentziehung im Sinne des § 1906 BGB. Zwar fehlt es an einer solchen, wenn der Betroffene faktisch nicht in der Lage ist, sich räumlich zu entfernen (vgl. BVerfG FamRZ 2016, 1738 Rn. 98; Senatsbeschluss vom 1. Juli 2015 – XII ZB 89/15 – FamRZ 2015, 1484 Rn. 25). Indessen hat das Landgericht auf der Grundlage der vom Amtsgericht eingeholten Sachverständigengutachten rechtsfehlerfrei festgestellt, dass die Betroffene sich eigenständig mit ihrem Rollstuhl fortbewegen und – angesichts einer offenen Tür – den natürlichen Willen entwickeln und umsetzen kann, die Wohneinrichtung durch die offene Tür zu verlassen. Dass die Betroffene angesichts der bislang verschlossenen Außentür nicht versucht hat, die Einrichtung zu verlassen, kann nicht die Annahme rechtfertigen, sie habe überhaupt nicht den natürlichen Willen dazu.
b) Gemäß § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB ist eine Unterbringung des Betreuten durch den Betreuer, die mit Freiheitsentziehung verbunden ist, nur zulässig, solange sie zum Wohl des Betreuten erforderlich ist, weil aufgrund einer psychischen Krankheit oder geistigen oder seelischen Behinderung des Betreuten die Gefahr besteht, dass er sich selbst tötet oder erheblichen gesundheitlichen Schaden zufügt.
aa) Nach ständiger Rechtsprechung des Senats setzt die Genehmigung einer geschlossenen Unterbringung nach § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB keine akute, unmittelbar bevorstehende Gefahr für den Betreuten voraus. Notwendig ist allerdings eine ernstliche und konkrete Gefahr für Leib und Leben des Betreuten. Der Grad der Gefahr ist in Relation zum möglichen Schaden ohne Vornahme der freiheitsentziehenden Maßnahme zu bemessen. Die Gefahr für Leib oder Leben erfordert kein zielgerichtetes Verhalten, aber objektivierbare und konkrete Anhaltspunkte für den Eintritt eines erheblichen Gesundheitsschadens (Senatsbeschlüsse vom 5. März 2014 – XII ZB 58/12 – FamRZ 2014, 831 Rn. 9 mwN und vom 13. Januar 2010 – XII ZB 248/09 – FamRZ 2010, 365 Rn. 14). Die Prognose einer nicht anders abwendbaren Suizidgefahr oder einer Gefahr erheblicher gesundheitlicher Schäden ist Sache des Tatrichters. Sie baut im Wesentlichen auf der Anhörung des Betroffenen und der weiteren Beteiligten sowie auf dem nach § 321 FamFG einzuholenden Sachverständigengutachten auf (Senatsbeschlüsse vom 5. März 2014 – XII ZB 58/12 – FamRZ 2014, 831 Rn. 10 mwN und vom 13. Januar 2010 – XII ZB 248/09 – FamRZ 2010, 365 Rn. 15).
Die Genehmigung der Unterbringung muss zudem erforderlich sein. Wenn die Gefahr durch andere Mittel als die freiheitsentziehende Unterbringung abgewendet werden kann, kommt eine Unterbringung als unverhältnismäßig nicht in Betracht (Senatsbeschlüsse vom 14. Dezember 2011 – XII ZB 171/11 – FamRZ 2012, 441 Rn. 8; vom 21. September 2011 – XII ZB 263/11 – FamRZ 2011, 1864, Rn. 11 und vom 18. Mai 2011 – XII ZB 47/11 – FamRZ 2011, 1141 Rn. 12).
bb) Nach diesen Maßstäben ist die Genehmigung der geschlossenen Unterbringung auf der Grundlage der Feststellungen des Landgerichts rechtsbeschwerderechtlich nicht zu beanstanden.
(1) Die unter anderem für den Aufgabenkreis der Entscheidung über eine geschlossene Unterbringung als Betreuerin bestellte Beteiligte zu 1 hat die Genehmigung der Unterbringung der Betroffenen beantragt. Das Landgericht hat auf der Grundlage der vom Amtsgericht eingeholten Sachverständigengutachten sowie der persönlichen Anhörung der Betroffenen festgestellt, dass sie nach einem frühkindlichen Hirnschaden an hochgradiger geistiger Behinderung bei vorhandenem Coffin-Lowry-Syndrom sowie Epilepsie leidet. Aufgrund der genannten Gutachten ist das Landgericht zudem zu der Überzeugung gelangt, dass die Betroffene aufgrund ihrer psychischen Erkrankung nicht in der Lage ist, einen freien Willen zu bilden und danach zu handeln.
(2) Das Landgericht hat weiter berücksichtigt, dass die Genehmigung einer geschlossenen Unterbringung nach § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB eine ernstliche und konkrete Gefahr für Leib und Leben des Betreuten voraussetzt. Es ist aufgrund des Gutachtens der Sachverständigen Dr. L. zu der – rechtsbeschwerderechtlich nicht zu beanstandenden – Überzeugung gelangt, dass die Betroffene im Falle einer offenen Außentür spontan einen entsprechenden natürlichen Willen entwickeln und sich aus eigenem Antrieb mit ihrem Rollstuhl nach draußen in den allgemeinen Straßenverkehr begeben kann, was mit erheblichen Gefahren für sie verbunden ist. Dass die Betroffene angesichts der
verschlossenen Außentür bislang keinen Versuch unternommen hat, die Wohneinrichtung zu verlassen, rechtfertigt es entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde nicht, die Gefahr erheblicher gesundheitlicher Schäden für die Betroffene im allgemeinen Straßenverkehr als rein theoretisch abzuqualifizieren.
Eine weitergehende Ermittlungspflicht des Landgerichts nach § 26 FamFG bezüglich des bisherigen Verhaltens der Betroffenen angesichts der verschlossenen Außentür bestand entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde nicht.
(3) Das Landgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass die Unterbringung auch verhältnismäßig ist. Mildere Maßnahmen als die geschlossene Unterbringung kommen vorliegend nicht in Betracht. Auch die Rechtsbeschwerde zeigt eine Alternative nicht auf.
Ferner hat das Landgericht nachvollziehbar und in rechtlich nicht zu beanstandender Weise dargelegt, dass bei der vorliegenden Sachlage ein Unterbringungszeitraum von zwei Jahren nach § 329 Abs. 1 Satz 1 FamFG erforderlich ist (vgl. Senatsbeschluss vom 22. März 2017 – XII ZB 358/16 – juris Rn. 23 ff.).