Für das Vorliegen einer medikamentösen Freiheitsbeschränkung ist entscheidungserheblich:
– Welchen therapeutischen Zweck verfolgt die Anwendung jedes einzelnen der zu überprüfenden Medikamente?
– Wurden bzw. werden die Medikamente – insbesondere in der dem Bewohner verabreichten Dosierung und Kombination („bunter Mix“) – dieser Zweckbestimmung entsprechend eingesetzt?
– Welche konkrete Wirkung war und ist für den Bewohner mit dem Einsatz der Medikamente verbunden?
Selbst die therapeutisch indizierte medikamentöse Behandlung ist als Freiheitsbeschränkung zu beurteilen, wenn sie primär der Unterbindung von Unruhezuständen und der Beruhigung, also zur „Ruhigstellung“ des Patienten dient“.
Oberster Gerichtshof (Österreich), Beschluss vom 29.05.2008, Ob77/08z
Der 1938 geborene Bewohner lebt seit 18. 1. 2006 im einer Einrichtung. Er leidet an weit fortgeschrittener Demenz (Stadium 3), konkret an Morbus Pick. Dabei handelt es sich um eine neurodegenerative Erkrankung im Stirn- und Schläfenlappen des Gehirns, die durch Verhaltensauffälligkeiten, Persönlichkeitsveränderungen, Sprach- und Gedächtnisleistungsstörungen, vor allem aber den Verlust von Verhaltensregeln gekennzeichnet ist. Der Verlauf der Erkrankung ist langsam fortschreitend, jedoch seit dem letzten Jahr bereits in einem Stadium, in dem sich das cerebrale Abbaugeschehen als Vollbild einer fronto-temporalen Demenz präsentiert. Diese äußert sich in völliger Desorientierung, Agitiertheit, Muskelversteifung, motorischer Unruhe, Inkontinenz und kompletter Pflegebedürftigkeit.
Hiedurch ist eine steuerlos enthemmte – also durch den Bewohner nicht mehr beherrschbare – Mobilität bedingt. Dennoch empfindet der Bewohner noch Bedürfnisse rudimentärer Art, deren Nichtbefriedigung in ihm Leidensdruck erzeugt.
Die Bewohnervertreterin stellte Antrag auf gerichtliche Überprüfung freiheitsbeschränkender Maßnahmen durch die Verabreichung der Medikamente Zoldem, Dominal forte, Trileptal 200, Xanor, Tramabene, Seroquel, Risperdal Consta, Haldol, Nalbufine und Psychopax.
Aus den schriftlichen Vermerken gehe eine „massiv sedierende“ Wirkung auf den Bewohner hervor. Es sei zu prüfen, ob der Einsatz von Medikamenten in der nunmehrigen Form und Häufigkeit eine Freiheitsbeschränkung darstelle und inwiefern diese gegebenenfalls zulässig sei.
Zur Verabreichung von Medikamenten stellte das Erstgericht folgenden Sachverhalt fest:
In der Vergangenheit wurde der Bewohner wiederholt von Aggressionsausbrüchen getrieben. Derartige akute Erregungszustände gefährden ihn selbst, weil damit kaum abschätzbare Stresssituationen geschaffen werden, welche auch somatische Störungen wie Hypertonie nach sich ziehen. Auch ist seine Thymopsyche, also jener Teil des Seelenlebens, der das Gemüt betrifft, ausgeschaltet. In derartigen Situationen wurde ihm das Narkotikum Nalbufine verabreicht, welches beruhigende Wirkung erzeugt und anders als Valium vom Bewohner vertragen wird, aber auch sedierende Wirkung hat.
In rechtlicher Hinsicht führte das Erstgericht aus, Nalbufine werde primär zur Sedierung des Bewohners in akuten Erregungszuständen eingesetzt, stelle also eine Freiheitsbeschränkung dar. Gelinderes sei zur Linderung der Leiden des Bewohners allerdings nicht an die Hand gegeben, weshalb diese Maßnahme zulässig sei. Die sonstige Medikation verfolge therapeutische Ziele. Möge sie auch fachlich diskutabel sein und mitunter bewegungsdämpfende Nebenwirkungen zeitigen, sei sie nicht als Freiheitsbeschränkung zu qualifizieren.
Zur Rechtslage:
Nach § 3 Abs 1 HeimAufG liegt eine Freiheitsbeschränkung im Sinne dieses Bundesgesetzes vor, wenn eine Ortsveränderung einer betreuten oder gepflegten Person (im Folgenden: Bewohner) gegen oder ohne ihren Willen mit physischen Mitteln, insbesondere durch mechanische, elektronische oder medikamentöse Maßnahmen, oder durch deren Androhung unterbunden wird. § 4 HeimAufG normiert, dass eine Freiheitsbeschränkung nur vorgenommen werden darf, wenn
der Bewohner psychisch krank oder geistig behindert ist und im Zusammenhang damit sein Leben oder seine Gesundheit oder das Leben und die Gesundheit anderer ernstlich und erheblich gefährdet, 2. sie zur Abwehr dieser Gefahr unerlässlich und geeignet sowie in ihrer Dauer und Intensität im Verhältnis zur Gefahr angemessen ist, sowie
diese Gefahr nicht durch andere Maßnahmen, insbesondere schonendere Betreuungs- und Pflegemaßnahmen, abgewendet werden kann.
In den Gesetzesmaterialien wird zur Freiheitsbeschränkung durch medikamentöse Mittel ausgeführt, von einer solchen könne nur dann gesprochen werden, wenn die Behandlung unmittelbar die Unterbindung des Bewegungsdrangs bezweckt, nicht jedoch bei unvermeidlichen bewegungsdämpfenden Nebenwirkungen, die sich bei Verfolgung anderer therapeutischer Ziele mitunter ergeben können (ErlRV 253 BlgNR 22. GP 9). Danach soll eine Freiheitsbeschränkung durch medikamentöse Mittel nur dann von vornherein ausgeschlossen sein, wenn die Sedierung des Bewohners eine bloße Nebenwirkung des betreffenden Medikaments darstellt. Ist das Medikament hingegen ein (reines) Sedativum, mit dem also unmittelbar die Unterbindung des Bewegungsdrangs erreicht werden soll, kann von einer Nebenwirkung im Sinne der erläuternden Bemerkungen keine Rede sein (7 Ob 186/06p; Barth/Engel aaO § 3 HeimAufG Anm 7).
Zur Verabreichung von Nalbufine:
Für die Beschränkung der Bewegungsfreiheit gelten die Prinzipien der Unerlässlichkeit und Verhältnismäßigkeit (RIS-Justiz RS0105729). Die Beschränkung muss zur Erreichung des angestrebten Ziels unerlässlich sein und zu ihrem Zweck nicht außer Verhältnis stehen; es gilt der Grundsatz des geringstmöglichen Eingriffs (7 Ob 144/06m; 7 Ob 226/06w; 7 Ob 19/07f; Barth/Engel aaO § 4 HeimAufG Anm 9).
Die Feststellungen des Erstgerichts sind bei verständiger Würdigung dahin zu verstehen, dass dem Bewohner das Narkotikum Nalbufine in Fällen verabreicht wird, in denen seine Aggressionsausbrüche zu einem derart hohen Grad der Gefährdung seiner Person führen, dass die freiheitsbeschränkende Maßnahme zur Gefahrenabwehr unerlässlich und geeignet und durch Gefährdung durch gelindere Maßnahmen nicht abwendbar ist. Dabei wird das Medikament nur angewendet, soweit dies zu Erreichung des gewünschten Ziels, „nämlich das Leid des Bewohners zu lindern und ihn zu beruhigen“ tatsächlich erforderlich ist. Eingehenderer Feststellungen zu „Eignung, Dauer und Intensität der Verabreichung des Medikaments“ bedarf es nicht.
Die Bewohnervertreterin hat das Vorliegen der formellen Voraussetzungen der Vornahme einer Freiheitsbeschränkung (§§ 5 bis 7 HeimAufG) weder in erster noch in zweiter Instanz in Frage gestellt.
Zur Verabreichung von Zoldem, Dominal forte, Xanor, Seroquel und Haldol:
Es ist klarzustellen, dass anhand der Feststellung, der Einsatz der genannten Medikamente sei „therapeutisch indiziert“, die abschließende Beurteilung, ob eine Freiheitsbeschränkung vorliegt, keinesfalls möglich ist. Besagter Feststellung ist keine Aussage zu den entscheidungserheblichen Fragen entnehmbar,
1. welchen therapeutischen Zweck die Anwendung jedes einzelnen der zu überprüfenden Medikamente (zu Dominal forte liegt im Übrigen überhaupt keine Feststellung vor) verfolgt,
2. ob die Medikamente – insbesondere in der dem Bewohner verabreichten Dosierung und Kombination („bunter Mix“) – dieser Zweckbestimmung entsprechend eingesetzt wurden bzw werden und
3. welche konkrete Wirkung für den Bewohner mit dem Einsatz der Medikamente verbunden war und ist. Zu Recht verweist die Bewohnervertreterin in ihrem Rechtsmittel auf die auch hier einschlägige Rechtsprechung zum Unterbringungsgesetz, wonach selbst die therapeutisch indizierte medikamentöse Behandlung als Freiheitsbeschränkung zu beurteilen ist, wenn sie primär der Unterbindung von Unruhezuständen und der Beruhigung, also zur „Ruhigstellung“ des Kranken (hier: des Bewohners) dient (7 Ob 2423/96s = SZ 70/16 mwN; 1 Ob 251/00v = SZ 74/32; vgl Barth/Engel aaO § 3 HeimAufG Anm 7).