Aus medizinischer Sicht wird Prof. Rolf-Dieter Hirsch, Gerontopsychiater und früherer Chefarzt der Rheinischen Kliniken Bonn, die Problemstellung der medikamentösen Fixierung darstellen.
Er leitete seit 1991 die Abteilung für Gerontopsychiatrie und -psychotherapie in der LVR-Klinik Bonn, eine der größten gerontopsychiatrischen Abteilungen für ältere Menschen mit psychischen Erkrankungen in Deutschland. Er war Gründungspräsident der Deutschen Gesellschaft für Gerontopsychiatrie und -psychotherapie (DGGPP) und initiierte 1997 den Verein „Handeln statt Misshandeln – Bonner Initiative gegen Gewalt im Alter e.V.“. Für seine Verdienste um das Thema „Gerontopsychiatrie“ wurde er 2009 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Prof. Hirsch hat mit seinen wegweisenden Entwicklungen das Gesicht der Gerontopsychiatrie geprägt.
Sein herausragendes Engagement und seine vielfältigen Verdienste haben ihn deutschlandweit bekannt gemacht.
Auszüge aus einem Spiegel interview von 2010 (http://www.spiegel.de/spiegel/spiegelwissen/d-69123048.html) „Du stinkst ja schon wieder“ von Andrea Brandt
Fesseln und Fixieren gehört leider zum Alltag in vielen Heimen und Kliniken. Oft wird es auch noch gefährlich unsachgemäß gemacht. … Aber in vielen Altenheimen wird diese unmenschliche Praxis von allen Beteiligten hingenommen.
SPIEGEL: Warum?
Hirsch: Der Grund, warum ein alter Mensch gefesselt wird, ist ja meist die Angst, er könne stürzen und sich dabei verletzen. Deshalb drohen Angehörige manchmal sogar mit Anzeigen, wenn die alte Mutter oder der alte Vater nicht angegurtet wird. Das Pflegepersonal wiederum will auf Nummer sicher gehen. Wenn Heim- und Pflegedienstleiter aber genug Mut, Willen und ein Konzept haben, taucht das unnötige Fesseln praktisch nicht mehr auf.
SPIEGEL: Wie funktioniert das?
Hirsch: In der Bonner LVR-Klinik haben wir die Zahl der Fixierungen binnen eines Jahres um 90 Prozent reduziert. Wir haben höhenverstellbare Betten, legen manchmal zudem noch Sturzmatten auf den Boden, schützen zerbrechliche Körperteile mit Hüftprotektoren und ziehen den Patienten Stoppersocken an. Die Muskulatur und damit die Standfestigkeit der Patienten wird mit gezielter Krankengymnastik gestärkt. Das Entscheidende ist aber, dass wir die Mitarbeiter schulen und ihnen die Angst nehmen. Die Chefs müssen klar und konsequent sagen: „Bei uns gibt es keine Fesselungen“ und die Voraussetzungen dafür schaffen. Am Geld kann das nicht scheitern!
SPIEGEL: Wie üblich ist in Heimen die Zwangsmedikation mit Neuroleptika, um anstrengende Patienten ruhigzustellen?
Hirsch: Das ist an der Tagesordnung. Schätzungen, nach denen in vielen Heimen bis zu 60 Prozent der Bewohner nach dem Motto „Pille statt Beziehung“ mit Neuroleptika ruhiggestellt werden, halte ich für sehr realistisch. So vollgepumpte Alte machen einfach weniger Arbeit. Dabei dürften Neuroleptika zumindest bei Demenzkranken eigentlich gar nicht eingesetzt werden, weil deren Gehirne durch die starken Nebenwirkungen vollends zerstört werden. Sie sterben dann nachweislich deutlich früher.
SPIEGEL: Wieso wehren sich Angehörige von Dementen nicht gegen die Verabreichung von Neuroleptika?
Hirsch: Das größte Problem ist die Unkenntnis. Angehörige und auch Ärzte wissen oft nicht genug über die gefährlichen Nebenwirkungen. Die Patienten und ihre Betreuer fragen nicht nach. Sie vertrauen blind darauf, dass es schon richtig sein wird, was der Arzt da verschreibt. Die Ärzte stehen aber oft unter massivem Druck von Heimleitern, Pflegekräften und Angehörigen. Die rufen an und sagen: „Es geht nicht mehr anders, schreiben sie schon das Rezept.“
Mit großer Wahrscheinlichkeit wird den Ärzten und medizinischen Sachverständigen in Zukunft bei dieser Fragestellung eine entscheidende Rolle zukommen, insbesondere medikamentöse Fixierungen zu erkennen, das Gericht darauf hinzuweisen, die Risiko-Nutzen Abwägung darzustellen oder im Rahmen der Begutachtung auch eine Bewertung zu empfehlen.
Das Zentrum für Sozialpolitik an der Universität Bremen hat für die „Welt am Sonntag“ 2012 berechnet, dass in Deutschland knapp 240.000 Demenzkranke zu Unrecht mit Psychopharmaka behandelt würden (http://www.welt.de/wirtschaft/article13944535/Chemische-Gewalt-setzt-Demenzkranke-ausser-Gefecht.html), häufig mit der Zielsetzung der Ruhigstellung ohne therapeutischen Ansatz. Zugleich finden gerichtliche Genehmigungsverfahren zur medikamentösen Freiheitsentziehung in bundesdeutschen Amtsgerichten nahezu nicht statt.
Nur so ganz nebenbei: Er hat sich nicht nur mit humorvollen Vorträgen, sondern insbesondere auch durch seinen humoristischen Stil in der Behandlung von älteren, psychisch kranken Menschen einen Namen gemacht. Herrn Prof. Rolf Dieter Hirsch ist es ein großes Anliegen, kritischen Situationen im Alltag mit Humor zu begegnen – das entspannt einen selbst und die Situation. Gerade im Kontakt mit Menschen, die an einer Demenz erkrankt sind, können hierdurch Momente des einander nicht Verstehens entschärft werden. Seine Arbeit ermutigt, sich ab und an ein bisschen verrückt zu verhalten und dies auch bei den Mitmenschen – mit und ohne Demenz – zu tolerieren. Und nicht vergessen werden darf: Das Gespür für Humor bleibt auch bei Menschen mit einer fortgeschrittenen Demenz lange erhalten und so können sie über lustige Situationen und Sprüche herzhaft lachen – wo wir vielleicht dachten, sie hätten den Witz oder die Situation gar nicht verstanden!