Kosten für eine Sitzwache zur Vermeidung einer allnächtlichen Fixierung sind nicht völlig unangemessen und müssen ggf. vom Sozialhilfeträger übernommen werden.
LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 19.02.2012, L 2 SO 72 / 12
Die Antragstellerin, geboren am 22.6.1931, leidet unter multiplen psychiatrischen, neurologischen und internistischen Erkrankungen. Sie lebt im Altenpflegeheim. Die insoweit ungedeckten Kosten trägt der Sozialhilfeträger im Rahmen der Hilfe zur Pflege SGB XII.
Aufgrund der psychischen Erkrankung treten bei der Antragstellerin Verhaltensauffälligkeiten auf [..] die … bei grundsätzlich guter Lenkbarkeit der Antragstellerin tagsüber durch das Personal einigermaßen aufgefangen werden können, nachts jedoch nur durch eine 1:1-Betreuung mit dauernder Anwesenheit einer Pflegeperson in ihrem Zimmer vermieden bzw. kontrolliert werden könnten. Im Hinblick darauf beantragte der Betreuer die Erweiterung der Hilfeleistung durch Finanzierung einer nächtlichen 1:1-Betreuung in der Zeit von 19:00 Uhr bis 7:00 Uhr, alternativ durch das Pflegeheim oder externes Pflegepersonal.
Die Antragstellerin wird … jede Nacht mittels Bettgurt fixiert. Aussicht auf Besserung ihres Zustandes bestehen nicht. Nach Angaben des Pflegeheimes nimmt sie diesen Vorgang voll wahr, leidet erheblich darunter und bittet unter Weinen, hiervon abzusehen.
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Hier erscheint ein Anordnungsanspruch wahrscheinlich. Dieser kann erstens auf § 61 Abs. 1 Satz 2 SGB XII (sog. Öffnungsklausel) gestützt werden. Nach Var. 3 dieser Vorschrift ist Hilfe zur Pflege auch Kranken und behinderten Menschen zu leisten, die u. a. der Hilfe für andere Verrichtungen als die sog. Katalogverrichtungen nach Abs. 5 a. a. O. bedürfen. Zu diesen sonstigen Verrichtungen zählt insbesondere die hier glaubhaft gemachte Erforderlichkeit einer Nachtwache zur Verhinderung selbstgefährdenden Verhaltens (vgl. nur Meßling, in: juris PK-SGB XII, 1. A. 2010, § 61, Rnr. 89; Randak, in: Oestreicher, SGB II/SGB XII, 57. EL 2009, § 61 SGB XII, Rnr. 22; H. Schellhorn, in: Schellhorn/Schellhorn/Hohm, SGB XII, 18. A. 2010, § 61, Rnr. 35). Reichen die von der Pflegekasse zuerkannten Maßnahmen bereits dem Grunde nach nicht aus, den Bedarf an Hilfe zur Pflege für solche sonstigen Verrichtungen zu decken, gibt die Öffnungsklausel dem Pflegebedürftigen nach Teilen der Kommentarliteratur unmittelbar einen Anspruch auf Bedarfsdeckung z. B. im Wege der Kostenerstattung (Frieser, in: Linhart/ Adolph, SGB II SGB XII AsylbLG, 63. AL 2009, § 61 SGB XII, Rnr. 25; Meßling, a. a. 0., Rnr. 96). Nach anderen Autoren besteht ein Anspruch auf Bedarfsdeckung für die „anderen Verrichtungen“ in Form von Eingliederungshilfe für behinderte Menschen nach §§ 53 ff. SGB XII (Grube, in: Grube/ Wahrendorf, SGB XII, 3. A. 2010, § 61, Rnr. 32). Dies stellt zugleich die zweite für den verfahrensgegenständlichen Anspruch denkbare Anspruchsgrundlage dar.
Auch ein Anordnungsgrund ist glaubhaft gemacht. Die derzeit praktizierte allnächtliche Fixierung der Antragstellerin stellt einen Eingriff in ihre von Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 und 2 des Grundgesetzes (GG) garantierten Grundrechte dar, der durch die Erfüllung des Anordnungsanspruchs auf Leistungen für eine Nachtwache vollständig vermieden werden könnte. Dieser Eingriff ist nach lntensität, Häufigkeit und Dauer so schwerwiegend, dass der Antragstellerin nicht zugemutet werden kann, ihn bis zur bestandskräftigen Entscheidung über ihren Antrag hinzunehmen. Dem kann der Antragsgegner nicht mit Erfolg entgegenhalten, dass für die Antragstellerin derzeit keine finanziellen Nachteile bestehen, denn der Grundrechtseingriff ist seinerseits nicht ökonomischer Natur und seiner Art nach nicht revidierbar. An der Beurteilung ändert sich auch dadurch nichts, dass die nächtliche Fixierung schon seit geraumer Zeit praktiziert wird, vom Betreuer beantragt und gerichtlich genehmigt wurde. Das Betreuungsgericht konnte seinen Beschluss – anders als das Sozialgericht – nicht auf eine Güterabwägung zwischen dem Grundrechtseingriff durch Fixierung einerseits, dessen Vermeidung durch Sozialhilfeleistungen andererseits stützen, denn es stand ihm nicht zu, den Antragsgegner zu entsprechenden Leistungen zu verpflichten. Dem Betreuungsgericht oblag es vielmehr, den Grundrechtseingriff gegen die andernfalls in Ermangelung der verfahrensgegenständlichen Sozialhilfeleistung tatsächlich drohende Selbstgefahrdung der Antragstellerin abzuwägen, ohne die aktuell nicht realisierte nächtliche 1:1-Betreuung als Alternative in Betracht ziehen zu können. Der Betreuer betrieb die gerichtliche Gestattung der Fixierung nicht etwa alternativ zur verfahrensgegenständlichen Sozialhilfeleistung, sondern weil er damit rechnen musste, dass bis zur bestandskräftigen Entscheidung über seinen Antrag auf Leistungen für eine Nachtwache geraume Zeit vergeht, in der ohne Fixierung eine erhebliche Selbstgefährdung der Antragstellerin bestünde. Er war daher gehalten, bis dahin eine Selbstverletzung der Antragstellerin mit dem einzig bereiten Mittel – der nächtlichen Fixierung – abzuwenden. Der Umstand schließlich, dass die Fixierung bereits seit Monaten praktiziert wird, beruht darauf, dass eine bestandskräftige (positive) Entscheidung über den Leistungsantrag des Betreuers bislang nicht getroffen wurde. Der Anordnungsgrund wird dadurch gerade nicht beseitigt, sondern verstärkt, denn die Intensität des Grundrechtseingriffs nimmt durch seine Dauer noch zu.
Schließlich spricht selbst die – bei lediglich wahrscheinlichem Anordnungsanspruch vorzunehmende – Folgenabwägung für den Erlass der beantragten einstweiligen Anordnung. Würde diese trotz Anordnungsanspruchs nicht erlassen, müsste die Klägerin die schwere und irreversible sowie – in Anbetracht der betreuungsgerichtlichen Genehmigung – auch nicht entschädigungsfähige Grundrechtsbeeinträchtigung weiter hinnehmen. Würde umgekehrt die einstweilige Anordnung erlassen, obwohl es am Anordnungsanspruch fehlt, erlitte zwar der Antragsgegner eine nicht unerhebliche rechtsgrundlose finanzielle Beeinträchtigung, deren Rückabwicklung in Anbetracht der finanziellen Verhältnisse der Antragstellerin fraglich wäre. Selbst wenn aber der Antragsgegner hierfür die im Angebot des Pflegeheimes ausgewiesenen Kosten von durchschnittlich 6166 € monatlich aufwenden müsste, würden die der Antragstellerin im umgekehrten Fall drohenden Nachteile diese Kosten jedoch überwiegen. Denn so hoch der genannte Betrag auch scheinen mag, liegt er doch nur geringfügig über den Kosten, die für die Pflegeheimunterbringung von zwei Personen in Pflegestufe III durchschnittlich entstehen. Dies ist zur Vermeidung einer andernfalls erforderlichen, von der Betroffenen als zutiefst belastend empfundenen und möglicherweise durch von ihr zu beanspruchenden Leistungen der Sozialhilfe vermeidbaren allnächtlichen Fixierung jedenfalls nicht völlig unangemessen.
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Das Gericht hat die einstweilige Anordnung in der Annahme, dass bis dahin eine bestandskräftige Entscheidung über den Widerspruch der Antragstellerin zumindest möglich sein dürfte, auf das erste Halbjahr 2012 beschränkt.