OLG Saarbrücken, Urteil v. 29.1.2008 – 4 U 318/07-115

Hat sich das Pflegepersonal davon überzeugt, dass ein halbseitig gelähmter Heimbewohner noch dazu in der Lage ist, sich im Außengelände ohne fremde Hilfe aktiv im Rollstuhl fortzubewegen, besteht keine Veranlassung für ein Verbot, das Heim mit dem Rollstuhl unbegleitet zu verlassen; auch ist die Heimleitung nicht gehalten, den Heimbewohner beim oder nach dem Verlassen des Gebäudes ständig zu beobachten.

 

Aus den Entscheidungsgründen:

Zugunsten von Herrn J. als einem Leistungsempfänger der sozialen Pflegeversicherung bestand ein Heimvertrag, dessen Leistungsinhalte sich in Bezug auf die allgemeinen Pflegeleistungen sowie Unterkunft und Verpflegung und etwaige Zusatzleistungen nach dem SGBXI bestimmten. Dieses fordert von den Pflegeeinrichtungen nach den §§ 11 I S. 1, 28 III SGBXI die Leistungserbringung entsprechend dem allgemein anerkannten Stand medizinisch-pflegerischer Erkenntnisse (vgl. hierzu BGH, FamRZ 2005, 1560 = NJW 2005, 2613). Daneben besteht die allgemeine Verkehrssicherungspflicht zum Schutz der Heimbewohner vor Schädigungen, die diesen wegen Krankheit oder sonstiger körperlicher oder geistiger Einschränkungen durch sie selbst und durch die Einrichtung und bauliche Gestaltung des Altenheimes drohen (BGHZ 163, 53 = FamRZ 2005, 1074).

Die Klage und Berufung hätten Erfolg, wenn der Bekl. als Träger der Einrichtung dem Heimbewohner J. aus positiver Vertragsverletzung oder unerlaubter Handlung (§§ 823 I, 831 BGB) zu Schadensersatz verpflichtet wäre, weil das Pflegepersonal Obhutspflichten zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit oder strukturgleiche Verkehrssicherungspflichten verletzt hätte und wenn diese Pflichtverletzungen für das Unfallgeschehen ursächlich waren.

Die Beweislast ist dabei so verteilt, dass es im Grundsatz Aufgabe des Gläubigers, hier also der Kl., die sich auf einen Anspruchsübergang nach § 116 I SGBX beruft, ist, den Vollbeweis für einen objektiven Pflichtverstoß zu erbringen. Zwar können sich in Fällen, in denen Heimbewohner zu Schaden kommen, nach der Rechtsprechung Beweiserleichterungen ergeben. Diese kommen aber nur in Betracht, wenn der Heimbewohner sich in einer konkreten Gefahrensituation befunden hat, die gesteigerte Obhutspflichten auslöste, und wenn deren Beherrschung einer speziell dafür eingesetzten Pflegekraft anvertraut worden war. Demgegenüber kann im „normalen, alltäglichen Gefahrenbereich“, der in der eigenverantwortlichen Risikosphäre des Geschädigten verbleibt, bei Schadensfällen nicht ohne weiteres auf eine allein aus dem Verantwortungsbereich des Schuldners herrührende Schadensursache geschlossen werden. In Fällen dieser Art obliegt der Nachweis des objektiven Pflichtverstoßes dem Gläubiger (BGHZ 163, 53 = FamRZ 2005, 1074 = NJW 2005, 1937, 1938, m. w. N.).

Steht der objektive Pflichtverstoß fest, muss der Bekl. beweisen, dass er und seine Erfüllungsgehilfen diesen nicht zu vertreten haben (BGH, NJW 1987, 1938; Palandt/Heinrichs, BGB, 60. Aufl., § 282 a. F. Rz. 16). Den Nachweis für den Kausalzusammenhang zwischen Pflichtverletzung und Schaden hat im Regelfall der Gläubiger zu führen (BGH, FamRZ 1989, 1165 = NJW 1989, 2946; 1988, 203). Beweiserleichterungen bis hin zur Umkehr der Beweislast können sich bei grober Verletzung von Berufspflichten ergeben, die dem Schutz von Leben und Gesundheit der Patienten oder Heimbewohner dienen (Palandt, a. a. O., Rz. 14). Auch wenn § 287 ZPO prinzipiell nicht für die haftungsbegründende Kausalität gilt, gewährt die Rechtsprechung mitunter Beweiserleichterungen (vgl. dazu Musielak/Foerste, ZPO, 5. Aufl., Rz. 4, 5 zu § 287, m. w. N.).

III. Nach dem Ergebnis der erstinstanzlichen Beweisaufnahme, den Erkenntnissen der mündlichen Gutachtenerläuterung und den zur Unfallörtlichkeit getroffenen weitergehenden Feststellungen kann schon eine der Bekl. anzulastende objektive Obhutspflichtverletzung bzw. eine Verletzung der Verkehrssicherungspflicht nicht bejaht werden. Begrenzt sind die Pflichten auf die in Pflegeheimen üblichen Maßnahmen, die mit einem vernünftigen finanziellen Aufwand realisierbar sind (BGHZ 163, 53 = FamRZ 2005, 1074).

  1. Maßstab für die anzuwendende Sorgfalt ist in erster Linie § 28 III SGBXI (LG Frankfurt/M., NJW 2005, 1952, 1953). Hiernach haben Pflegeeinrichtungen ihre Leistungen entsprechend dem allgemeinen Stand medizinisch-pflegerischer Erkenntnisse zu erbringen. Neben der Sicherung des Pflegestandards und einer dem korrespondierenden Qualität des Wohnens und der Betreuung (§ 2 I Nr. 5 HeimG i. V. mit § 28 III SGBXI) ist Ziel der Pflege zugleich auch die Wahrung der Würde, der Verantwortung und die Förderung der Selbstständigkeit der Heimbewohner (§ 2 I Nr. 1 und 2 HeimG sowie Art. 1 I, 2 I GG). Welchen konkreten Inhalt die Verpflichtung hat, einerseits die Menschenwürde und das Freiheitsrecht eines kranken, auf fremde Hilfe angewiesenen, in einem Heim untergebrachten Menschen zu achten und andererseits sein Leben und seine körperliche Unversehrtheit zu schützen, entzieht sich nach der Rechtsprechung schematischer Betrachtung und entscheidet sich aufgrund sorgfältiger Abwägung sämtlicher Umstände des jeweiligen Einzelfalles (BGHZ 163, 53 = FamRZ 2005, 1074 = NJW 2005, 1937, 1938).
  2. Im Streitfall kommt es entscheidend darauf an, ob es unter Berücksichtigung des Gesundheitszustandes des Heimbewohners zum Zeitpunkt des Unfalls vertretbar erschien, Herrn J. einen noch vorhandenen Bewegungsdrang in der Weise ausleben zu lassen, dass er sich mit dem Rollstuhl im Heim und dem dazugehörigen Freigelände frei bewegte, oder ob sich Herr J. beim unbegleiteten Verlassen des Heimes für den Bekl. und dessen Mitarbeiter erkennbar in einer konkreten Gefahrenlage befunden hat, die gesteigerte Obhutspflichten auslöste. Das wiederum hängt maßgeblich davon ab, ob Herr J. trotz der halbseitigen Lähmung noch in der Lage war, sich im Freigelände ohne fremde Hilfe im Rollstuhl sicher fortzubewegen, und wie gefährlich die vor dem Eingang befindliche „Rampe“ war.

…..

Der SV hielt …..  sah es als ohne Weiteres möglich an, dass Herr J. damals im von den Zeugen beschriebenen Umfang mobil war, weshalb der Senat nach allgemeinen Beweislastgrundsätzen die Angaben der Zeugen seiner rechtlichen Beurteilung, ob von einer Obhuts- bzw. Verkehrssicherungspflichtverletzung auszugehen ist, zugrunde zu legen hatte [wird ausgeführt].

Für eine noch vorhandene Fähigkeit von Herrn J., sich aktiv mit dem Rollstuhl fortzubewegen, spricht im Übrigen auch das Unfallgeschehen als solches.

  1. c) War Herr J. nach den medizinisch nicht widerlegten Angaben des Pflegepersonals aber noch in der Lage, sich aktiv ohne fremde Hilfe ohne Orientierungsschwierigkeiten im Außenbereich des Heims mit dem Rollstuhl sicher fortzubewegen und hat sich das Pflegepersonal vor dem streitgegenständlichen Unfall unwiderlegt aufgrund eigener Wahrnehmungen und gezielter Beobachtung wiederholt vergewissert, dass Herr J. die im Bereich des Vordereingangs leicht abschüssige Zufahrt komplikationslos in beide Richtungen befahren hat, um in den Park und von dort wieder zurück ins Gebäude zu gelangen, und hat Herr J. die Zufahrt mit dem Rollstuhl aus eigener Kraft sogar mehrfach bis zur Straße befahren und an deren Ende angehalten, bedurfte er am Unfalltag nach Einnahme des Mittagessens weder besonderer Beobachtung noch einer Begleitung beim Verlassen des Gebäudes mit dem Rollstuhl durch den Vordereingang.

Nach dem Zustand ….  war Herrn J. das von ihm in Anspruch genommene Recht, sich im Heim und dem mit dem Rollstuhl zugänglichen Außenbereich, insbesondere dem Park, frei zu bewegen, zu belassen. Auch wenn das Pflegepersonal um die Gewohnheit von Herrn J. wusste, nach dem Mittagessen im Foyer des Heims oder draußen im Park zu rauchen, und zu vermuten war, dass Herr J., um in den Park zu gelangen, die Zufahrt benutzen würde, bestand keine konkrete Gefahrensituation, die gesteigerte Obhutspflichten auslöste, und in der eine besondere Überwachung durch das Pflegepersonal oder eine Hilfestellung beim Fahren in den Park und Überwinden der Zufahrt erforderlich war.

Herr J. stand trotz der krankheitsbedingt beeinträchtigten Steuerungsfähigkeit im Vorfallszeitpunkt nicht unter Betreuung. Es war nicht nur dessen Menschenwürde, sondern auch das Freiheitsrecht des kranken Heimbewohners zu beachten, was implizierte, dass Herr J. noch vorhandene Mobilitätsressourcen, soweit das nicht absehbar mit konkreten Gefahren für sein Leben und seine körperliche Unversehrtheit verbunden war, ausschöpfen durfte. Wenn ein Heimbewohner trotz halbseitiger Lähmung noch in der Lage ist, sich im Außenbereich des Heims ohne fremde Hilfe aktiv im Rollstuhl fortzubewegen und wenn sich das Pflegepersonal durch wiederholte Beobachtung davon überzeugen konnte, das dies komplikationslos vonstatten geht, besteht keine Veranlassung, den Heimbewohner hieran zu hindern und ihn einer noch vorhandenen Mobilität zu berauben. Die Obhutspflicht soll kranke Heimbewohner vor konkret drohenden Schäden bewahren. Eine „übervorsichtige“, jede selbstständige Betätigung der Heimbewohner im alltäglichen Gefahrenbereich, der ein theoretisches Gefahrenpotenzial innewohnen könnte, im Ansatz unterbindende Betreuung wäre kontraindiziert und mit zumutbarem Aufwand weder möglich noch geschuldet.

Ein Wegschließen von Herrn J. im Zimmer oder im Wohnbereich verbot sich von selbst. Das gilt umso mehr, als eine auf der suchtbedingten Labilität beruhende Weglauftendenz bei Herrn J. bis dahin nicht festgestellt wurde. Für das Pflegepersonal bestand kein Anhalt, dass Herr J. das Freigelände des Heimes je verlassen hat. Ein kontrolliertes Verbot, das Haus im Rollstuhl unbegleitet zu verlassen, wäre als auf Dauer freiheitsbeschränkende Maßnahme aus Rechtsgründen nicht in Betracht gekommen und angesichts der besonderen Persönlichkeitsartung von Herrn J. zudem wenig erfolgversprechend gewesen. Auch wenn dem Pflegepersonal bekannt war, dass Herr J. durchaus eigensinnig war und er die ihm verbliebene Mobilität dazu nutzte, um sich mit dem Rollstuhl im Haus und dem Außenbereich des Heims frei zu bewegen, bestand nach den bis dahin gemachten Erfahrungen trotz der leicht abschüssigen Zufahrt nicht die konkrete Gefahr, dass Herr J. sich hierbei erheblichen gesundheitlichen Schaden zufügen wird, und es gab keinen den Erfordernissen des Art. 2 II S. 3 GG genügenden Grund für in zentrale Grundrechte des Heimbewohners eingreifende freiheitsbeschränkende Maßnahmen. Allenfalls wäre daran zu denken gewesen, Herrn J. beim Verlassen des Vordereingangs mit dem Rollstuhl mit erhöhter Aufmerksamkeit zu beobachten, um festzustellen, ob sich aus seiner Freiheitsliebe und seinem noch vorhandenen Bewegungsdrang ggf. eine solche Gefahr ergeben könnte (zum Umfang der Verkehrssicherungspflicht bei einem halbseitig gelähmten, auf den Rollstuhl angewiesenen Heimbewohner vgl. LG Frankfurt/M., NJW 2005, 1952, 1953). Dass die Mitarbeiter des Bekl. dieser Verpflichtung gerecht wurden und das Verhalten von Herrn J. verstärkt beobachteten, folgt schon daraus, dass seine regelmäßigen Fahrten in den Park von zahlreichen Mitarbeitern mitverfolgt wurden. Auch bei gelegentlichen Fahrten bis ans Ende der Zufahrt wurde Herr J. vom Personal beobachtet und ins Heim zurückgebracht. Herrn J. wurde daher durchaus eine verstärkte Aufmerksamkeit zuteil.

Fehlt es somit schon am Nachweis einer objektiven Obhutspflichtverletzung, scheitert eine Haftung des Bekl. für unfallbedingte Heilbehandlungskosten auch daran, dass der konkrete Unfallhergang im Einzelnen nicht mehr aufklärbar und die Schadensursächlichkeit einer eventuell in Betracht kommenden unzureichenden Kontrolle oder mangelnden Begleitung beim Verlassen des Heims mit dem Rollstuhl durch den Vordereingang nicht bewiesen ist [wird ausgeführt].

Link zur Entscheidung ….

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