BGH, Beschluss vom 01.06.2016, XII ZB 23 / 16

BGH, Beschluss vom 01.06.2016, XII ZB 23 / 16

 

Das Amtsgericht hat verfahrensfehlerhaft die Patientin nicht selbst, sondern nur im Wege der Rechtshilfe angehört.

Nach § 319 Abs. 1 Satz 1 FamFG hat das Gericht den Patientin vor einer Unterbringungsmaßnahme persönlich anzuhören und sich einen persönlichen Eindruck von ihm zu verschaffen. Diese Verfahrenshandlungen sollen gemäß § 319 Abs. 4 FamFG nicht im Wege der Rechtshilfe erfolgen. Die Sollvorschrift bringt zum Ausdruck, dass der Richter in der Regel den Patienten persönlich anzuhören und sich selbst einen persönlichen Eindruck von dessen Lebensumständen zu verschaffen hat. Wegen der zentralen Bedeutung der persönlichen Anhörung der Patientin im Unterbringungsverfahren ist eine Anhörung der Patientin im Wege der Rechtshilfe nur in eng begrenzten Ausnahmefällen möglich. Macht das Gericht von der Möglichkeit Gebrauch, die nach § 319 Abs. 1 FamFG notwendigen Verfahrenshandlungen im Wege der Rechtshilfe vornehmen zu lassen, muss es zudem in seiner Entscheidung die Gründe hierfür in nachprüfbarer Weise darlegen.

 

Die Verpflichtung des Gerichts, den Patienten persönlich anzuhören und sich einen persönlichen Eindruck von ihm zu verschaffen, besteht nach § 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG grundsätzlich auch im Beschwerdeverfahren.

Zwar räumt § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG dem Beschwerdegericht die Möglichkeit ein, von einer erneuten Anhörung abzusehen, etwa wenn die erstinstanzliche Anhörung nur kurze Zeit zurückliegt, sich nach dem Akteninhalt keine neuen entscheidungserheblichen Tatsachen oder rechtliche Gesichtspunkte ergeben, das Beschwerdegericht das in den Akten dokumentierte Ergebnis der erstinstanzlichen Anhörung nicht abweichend werten will und es auf den persönlichen Eindruck des Gerichts von dem Patientin nicht ankommt. Im Beschwerdeverfahren kann allerdings nicht von einer Wiederholung solcher Verfahrenshandlungen abgesehen werden, bei denen das Gericht des ersten Rechtszugs zwingende Verfahrensvorschriften verletzt hat.

 

 

Aus den Gründen:

Die Patientin wendet sich gegen Genehmigung ihrer zwangsweisen Heilbehandlung.

Auf Antrag der Betreuerin hat das Amtsgericht zunächst die Unterbringung der Patientin in einer geschlossenen Einrichtung für die Dauer eines Jahres genehmigt. Außerdem hat die Betreuerin beantragt, die zwangsweise medikamentöse Behandlung der Patientin gerichtlich zu genehmigen.

Das Amtsgericht hat die Anhörung der Patientin im Wege der Rechtshilfe veranlasst und ein psychiatrisches Sachverständigengutachten eingeholt. Nach Eingang des Gutachtens hat das Amtsgericht die zwangsweise Verabreichung für einen Zeitraum von sechs Wochen genehmigt. Auf der der Patientin zugestellten Ausfertigung des Beschlusses ist die Entscheidung als einstweilige Anordnung bezeichnet.

Die Beschwerde der Patientin hat das Landgericht ohne erneute Anhörung der Patientin zurückgewiesen.

Mit der Rechtsbeschwerde begehrt die Patientin die Feststellung, dass die Beschlüsse von Amts- und Landgericht sie in ihren Rechten verletzt haben.

 

Die Rechtsbeschwerde zum BGH ist zulässig, insbesondere ist sie statthaft.

Bei der Genehmigung  handelt es sich nach § 312 Satz 1 Nr. 1 FamFG um eine Unterbringungssache.

Die Entscheidungen von Amts- und Landgericht zur Genehmigung der ärztlichen Zwangsbehandlung haben die Patientin in ihren Rechten verletzt, was nach der entsprechend anwendbaren Vorschrift des § 62 Abs. 1 FamFG (Senatsbeschluss vom 29. Januar 2014 – XII ZB 330/13 – FamRZ 2014, 649 Rn. 8 mwN) festzustellen ist.

 

Die Rechtsbeschwerde rügt zu Recht, dass die Patientin in beiden Tatsacheninstanzen entgegen § 319 Abs. 1 Satz 1 FamFG nicht persönlich angehört worden ist.

Das Amtsgericht hat verfahrensfehlerhaft die Patientin nur im Wege der Rechtshilfe angehört.

Nach § 319 Abs. 1 Satz 1 FamFG hat das Gericht den Patientin vor einer Unterbringungsmaßnahme persönlich anzuhören und sich einen persönlichen Eindruck von ihm zu verschaffen. Diese Verfahrenshandlungen sollen gemäß § 319 Abs. 4 FamFG nicht im Wege der Rechtshilfe erfolgen.

Der Senat hat bereits entschieden, dass es der Wortlaut des § 319 Abs. 4 FamFG zwar nicht völlig ausschließt, die vor der Genehmigung einer Unterbringungsmaßnahme zwingend gebotene Anhörung der Patientin im Wege der Rechtshilfe vorzunehmen. Die Ausgestaltung der Norm als Sollvorschrift bringt allerdings zum Ausdruck, dass der Richter, der über eine Unterbringungsmaßnahme zu entscheiden hat, in der Regel den Patienten persönlich anzuhören und sich selbst einen persönlichen Eindruck von dessen Lebensumständen zu verschaffen hat. Wegen der zentralen Bedeutung der persönlichen Anhörung der Patientin im Unterbringungsverfahren (vgl. dazu Senatsbeschluss vom 29. Januar 2014 – XII ZB 330/13 – FamRZ 2014, 649 Rn. 25 mwN), ist eine Anhörung der Patientin im Wege der Rechtshilfe jedoch nur in eng begrenzten Ausnahmefällen möglich (vgl. Senatsbeschluss vom 2. März 2016 – XII ZB 258/15 – FamRZ 2016, 804 Rn. 12 f.). Macht das Gericht von der Möglichkeit Gebrauch, die nach § 319 Abs. 1 FamFG notwendigen Verfahrenshandlungen im Wege der Rechtshilfe vornehmen zu lassen, muss es zudem in seiner Entscheidung die Gründe hierfür in nachprüfbarer Weise darlegen (Senatsbeschluss vom 2. März 2016 – XII ZB 258/15 – FamRZ 2016, 804 Rn. 14).

 

Gemessen hieran ist die Anhörung der Patientin im Wege der Rechtshilfe verfahrensfehlerhaft erfolgt. Umstände, die eine Anhörung durch den ersuchten Richter ausnahmsweise rechtfertigen könnten, werden in der amtsgerichtlichen Entscheidung nicht genannt. Allein eine geringere Reisezeit des ersuchten Richters zu der Unterbringungseinrichtung würde für ein Absehen von der persönlichen Anhörung durch den zur Entscheidung berufenen Richter nicht genügen (vgl. Senatsbeschluss vom 2. März 2016 – XII ZB 258/15 – FamRZ 2016, 804 Rn. 15 f.). Andere Umstände, die ausnahmsweise die Durchführung der Anhörung im Wege der Rechtshilfe gerechtfertigt hätten, sind nicht ersichtlich. Insbesondere ergibt sich die Zulässigkeit der Anhörung der Patientin im Wege der Rechtshilfe nicht aus § 331 Satz 2 FamFG, weil das Amtsgericht nicht im Wege einer einstweiligen Anordnung entschieden hat.

Das Beschwerdegericht durfte ebenfalls nicht von einer persönlichen Anhörung der Patientin absehen.

Die in § 319 Abs. 1 Satz 1 FamFG enthaltene Verpflichtung des Gerichts, vor der Entscheidung über eine Unterbringungsmaßnahme den Patientin persönlich anzuhören und sich einen persönlichen Eindruck von ihm zu verschaffen, besteht nach § 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG grundsätzlich auch im Beschwerdeverfahren (Senatsbeschluss vom 2. März 2011 – XII ZB 346/10 – FamRZ 2011, 805 Rn. 11 mwN).

Zwar räumt § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG auch in einem Unterbringungsverfahren dem Beschwerdegericht die Möglichkeit ein, von einer erneuten Anhörung des Patienten abzusehen, etwa wenn die erstinstanzliche Anhörung des Patientin nur kurze Zeit zurückliegt, sich nach dem Akteninhalt keine neuen entscheidungserheblichen Tatsachen oder rechtliche Gesichtspunkte ergeben, das Beschwerdegericht das in den Akten dokumentierte Ergebnis der erstinstanzlichen Anhörung nicht abweichend werten will und es auf den persönlichen Eindruck des Gerichts von dem Patientin nicht ankommt. Im Beschwerdeverfahren kann allerdings nicht von einer Wiederholung solcher Verfahrenshandlungen abgesehen werden, bei denen das Gericht des ersten Rechtszugs zwingende Verfahrensvorschriften verletzt hat. In diesem Fall muss das Beschwerdegericht den betreffenden Teil des Verfahrens nachholen oder das gesamte Verfahren wiederholen (st. Rspr., vgl. Senatsbeschlüsse vom 10. Februar 2016 – XII ZB 478/15 – FamRZ 2016, 802 Rn. 10; vom 15. Februar 2012 – XII ZB 389/11 – FamRZ 2012, 619 Rn. 18 und vom 2. März 2011 – XII ZB 346/10 – FamRZ 2011, 805 Rn. 14).

Danach hätte das Beschwerdegericht die Patientin vor seiner Entscheidung persönlich anhören müssen, weil das Amtsgericht verfahrensfehlerhaft entgegen § 319 Abs. 1 Satz 1 FamFG die Patientin vor der Genehmigung der ärztlichen Zwangsbehandlung nicht persönlich angehört hat und die Voraussetzungen für eine Anhörung im Wege der Rechtshilfe nicht vorgelegen haben. Hinzu kommt, dass zum Zeitpunkt der Anhörung der Patientin durch den ersuchten Richter das Sachverständigengutachten, auf das das Beschwerdegericht seine Entscheidung gestützt hat, noch nicht vorgelegen hat und sich die Anhörung daher nicht auf den Inhalt des Gutachtens bezogen haben kann. Da das Beschwerdegericht damit für seine Entscheidung mit dem Sachverständigengutachten eine Tatsachengrundlage herangezogen hat, die nach der amtsgerichtlichen Anhörung datiert, war eine erneute Anhörung der Patientin auch aus diesem Grund geboten (vgl. Senatsbeschluss vom 2. September 2015 – XII ZB 138/15 – FamRZ 2015, 1959 Rn. 13).

Die Patientin ist durch diese Verfahrensmängel in ihrem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG verletzt worden.

Die Feststellung, dass ein Patient durch angefochtene Entscheidungen in seinen Rechten verletzt ist, kann grundsätzlich auch auf einer Verletzung des Verfahrensrechts beruhen. Dabei ist die Feststellung nach § 62 FamFG jedenfalls dann gerechtfertigt, wenn der Verfahrensfehler so gravierend ist, dass die Entscheidung den Makel einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung hat, der durch Nachholung der Maßnahme rückwirkend nicht mehr zu tilgen ist (Senatsbeschluss vom 15. Februar 2012 – XII ZB 389/11 – FamRZ 2012, 619 Rn. 27 mwN).

 

Indem die Gerichte die zwangsweise Behandlung der Patientin genehmigt bzw. diese Genehmigung im Beschwerdeverfahren gebilligt haben, ohne die Patientin zur Notwendigkeit der Maßnahme persönlich anzuhören (§ 319 Abs. 1 FamFG) und in den instanzgerichtlichen Entscheidungen auch keine Gründe dafür dargelegt worden sind, weshalb eine Anhörung der Patientin nur im Wege der Rechtshilfe erfolgt ist, haben sie eine elementare Verfahrensgarantie verletzt, was die Feststellung nach § 62 FamFG rechtfertigt.

 

Das nach § 62 Abs. 1 FamFG erforderliche berechtigte Interesse der Patientin daran, die Rechtswidrigkeit der – hier durch Zeitablauf – erledigten Maßnahme feststellen zu lassen, liegt vor. Die gerichtliche Anordnung oder Genehmigung einer freiheitsentziehenden Maßnahme bedeutet stets einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff im Sinn des § 62 Abs. 2 Nr. 1 FamFG (st. Rspr., vgl. Senatsbeschluss vom 8. Juli 2015 – XII ZB 600/14 – FamRZ 2015, 1706 Rn. 15 mwN).

zum Wortlaut der Entscheidung

 

 

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